Warum wir Verschwörungstheoretiker lieben sollen

Christ sein in Corona-Zeiten (9)

 

Jeder von uns kennt sie. Sie sind in unserer Verwandtschaft, im Freundeskreis oder sogar in unserer Kirche oder Gemeinde. Wir begegnen ihnen auf der Arbeitsstelle und vor allem in den Sozialen Medien. Was sie verbreiten klingt manchmal plausibel und meistens völlig abstrus. Wie sollen wir mit Verschwörungstheoretikern umgehen? Meine Antwort: sie verstehen und lieben!

Von Steve Volke

 

Haben Sie es auch schon gehört? Der Anschlag vom 11. September wurde von der US-Regierung inszeniert.  Die Mondlandung hat nie stattgefunden, sondern wurde in Hollywood gefilmt.  Oswald handelte bei der Ermordung Kennedys nicht allein.  Ach so, die globale Erwärmung ist ein Märchen und der Mensch hat überhaupt nichts damit zu tun. Und Covid-19? Das wird über Mobilfunk verbreitet. Schon gewußt? Bill Gates hat die WHO gekauft und bereitet gerade die Übernahme der Weltregierung vor, die am 15. Mai stattfinden soll. Natürlich ist das alles abgesichert und wir treffen in den Diskussionen immer auf bestens informierte Gesprächspartner, die viel schlauer sind als wir alle.

 

Wie Verschwörungstheorien entstehen

 

Ein Blick in die Geschichte zeigt deutlich, dass Krisen der beste Nährboden für Verschwörungstheorien sind. Und das hat Gründe:

 

Die britische Psychologin Karen Douglas und ihre Kollegen haben kürzlich in einem Artikel in der Zeitschrift „Current Directions in Psychological Science“ über eine Studie berichtet, die nicht von Bill Gates finanziert wurde. Die Forscher fanden heraus, dass sich die Gründe für den Glauben an Verschwörungstheorien in drei Kategorien einteilen lassen:

 

1. Der Wunsch nach Verständnis und Gewissheit

 

2. Der Wunsch nach Kontrolle und Sicherheit

 

3. Der Wunsch, ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten

 

Wenn wir uns näher mit diesen Themen beschäftigen, fallen schnell einige Gemeinsamkeiten ins Auge. So eine Pandemie wie Corona/Covid-19 können wir nicht erklären und noch weniger verstehen. Dadurch wird unser Weltbild in den Grundfesten erschüttert. Das Gefühl der Ohnmacht tritt vor allem in der ersten Phase des Schocks in unser Leben.

 

Betrachten wir einfach mal der Reihe nach jedes dieser 3 Motive. Denn eins ist uns allen sicher klar: Mit Argumenten und Fakten zu diskutieren, führt uns meistens nicht weiter.

 

 

1.      Der Wunsch nach Verständnis und Gewissheit. 

 

Die Welt verstehen zu wollen, gehört zum Urbedürfnis von uns Menschen. Je mehr wir verstehen, umso mehr haben wir das Gefühl, unser Leben und unsere Umwelt „im Griff zu haben“, bzw. mit dem Leben zurecht zu kommen. Deshalb geben wir uns gerade in Krisenzeiten schnell mit plakativen Antworten zufrieden, weil sie „unser Weltbild wieder geraderücken“, bzw. uns helfen, die Dinge wieder zu verstehen. Dieser Wunsch ist oft größer, als der Wunsch, die Wahrheit anzuerkennen. Und die heisst: Wir haben nicht alles im Griff.

 

Der amerikanische Psychologe David Ludden vom Georgia Gwinnet College hat dazu vor kurzem in einem Artikel über Verschwörungstheorien („Why do people believe in Conspiracy Theories“) festgestellt: „Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, haben ein persönliches Interesse daran, sie aufrechtzuerhalten.  Schließlich haben sie sich bemüht, die verschwörungstheoretische Erklärung für das Ereignis zu verstehen, sei es durch das Lesen von Büchern, das Aufsuchen von Websites oder das Ansehen von Fernsehprogrammen, die ihre Überzeugungen unterstützen.  Unsicherheit ist ein unangenehmer Zustand, und Verschwörungstheorien vermitteln ein Gefühl des Verständnisses und der Gewissheit, das tröstlich ist.“

 

 

2.      Der Wunsch nach Kontrolle und Sicherheit.

 

Wir möchten unser Leben unter Kontrolle haben. Dazu brauchen wir die Sicherheit, dass wir es annähernd verstehen. Wenn wir es nicht tun, bemühen wir uns, einfache Antworten auf komplizierte Fragen zu finden. Daher sind wir anfällig für Menschen, die uns diese einfachen Antworten geben. „Ich bin arbeitslos? - Die Juden sind schuld!“ So lauteten die einfachen Antworten im 3. Reich. „Ich habe Angst vor Überfremdung und vor dem Islam? – die Flüchtlinge müssen raus!“, so lauten manche der einfachen Antworten heute. Dahinter steht oft der Eindruck, die Kontrolle über unser Leben zu verlieren. Verschwörungstheorien geben uns das Gefühl, die Kontrolle und Sicherheit zurück zu gewinnen.

 

 

3.      Der Wunsch, ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten

 

Interessanterweise werden viele Verschwörungstheorien von Menschen geboren, die sich gesellschaftlich ausgegrenzt fühlen. Oft haben diese Menschen auch die Zeit, sich mit den abstrusesten Dingen zu beschäftigen – und haben das Gefühl, Expertenwissen anzuhäufen. Manche meinen auch, zu neuen Gruppen zu gehören, die die Welt durchschauen und privilegiertes Wissen haben, das anderen nicht zugänglich ist. Sie fühlen sich also zu einem „konspirativen Zirkel der Eingeweihten“ zugehörig.

 

Leider gibt es in dieser Gruppe auch einige Christen, die es eigentlich besser wissen müssten. In Krisen zeigt sich sehr deutlich, unser Wertesystem.

 

Worauf bauen wir unser Leben? Interessant ist auch das Bestreben vieler Menschen, einen Sündenbock zu haben. Das war schon im Alten Testament so. Er wurde mit der Schuld des ganzen Volkes beladen und in die Wüste geschickt. Klingelt´s? Einige würden am liebsten „Merkel und das ganze Pack“ in die Wüste schicken. Und Bill Gates muss als Sündenbock herhalten, weil er am weitesten von uns entfernt ist. Sowohl sozial wie auch räumlich.

 

Zu unserem Charakter als Christen sollte gehören, dass wir die Wahrheit suchen und dass wir anderen Menschen in Liebe begegnen. Hier liegt meines Erachtens auch der Schlüssel im Umgang mit Menschen, die Verschwörungstheorien verbreiten und teilweise entgegen allen Fakten Dinge glauben, die nicht der Wahrheit entsprechen.

 

Wir können ihnen nicht mit Argumenten begegnen, denn sie diskutieren auf einem ganz anderen Level. Die oben genannten 3 Motive sind ihre Treiber, und die dahinter liegenden Sehnsüchte sind nicht mit Fakten zu erfüllen. Fakten sind etwas für den Kopf, doch die Menschen brauchen etwas für´s Herz, für´s Gefühl. Sie wollen weder allein gelassen sein, noch bevormundet werden.

 

 

Diskussionen zwecklos – es hilft nur noch Liebe

 

Natürlich müssen wir nicht den Verschwörungstheorien zustimmen. Und viele sollten wir sehr aktiv bekämpfen. Nahezu alle entbehren jeglichen Bezug zu den tatsächlichen Fakten! Das gilt vor allem dann, wenn die Verschwörungstheoretiker mit voller Absicht Lügen verbreiten, um noch mehr Menschen zu verängstigen, zu verwirren oder sich einen Spaß daraus machen, mit ihren Sorgen und Gefühlen zu spielen. Hier gilt es, die Motive hinter der Verbreitung von Verschwörungstheorien ans Licht zu bringen, und den wahren Bedürfnissen der Menschen nach Sicherheit, Anerkennung, Angstfreiheit zu begegnen. Offenkundigen Lügen und Demagogie sollte mit Sachlichkeit deutlich widersprochen werden. Verschwörungstheoretiker, die Christen sind, sollte mit den grundsätzlichen Charakterzügen einer Nachfolge Jesu begegnet werden, in der Lüge keinen Platz hat.

 

Der Journalist Simon Hurtz schrieb vor kurzem in der Süddeutschen Zeitung dazu:

 „Wer verstehen will, warum Menschen gerade jetzt so viel Unsinn teilen, muss deshalb tun, was die meisten Verschwörungstheoretiker verweigern: ganz genau hinschauen und scharf differenzieren.“

 

Liebe ist das Schlüsselwort

 

Die Menschen, die aus oben genannten Motiven Verschwörungstheorien auf den Leim gehen und sie fleißig und mit großem Missionseifer verbreiten, sollten wir einfach nur lieben. Es hat Hintergründe, warum sie es tun. Dieser Blog-Beitrag hat einige genannt.

 

Und wenn uns das schwerfällt, hilft uns vielleicht ein Zitat des verstorbenen Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch. Ich hatte das große Glück, einige Jahre als sein Verleger mit ihm zusammen zu arbeiten. Bei einer Projektbesprechung sagte er ganz unvermittelt: „Wissen Sie, Volke, jeder Mensch ist anders bekloppt.“

 

Irgendwie fand ich das sehr tröstlich.

 

Fotos: Pixabay / facebook